Kopftücher im Advent

Da ist schon wieder ein neues Kopftuchurteil beim Bundesarbeitsgericht ergangen. Es geht darum, ob eine junge türkische Kosmetikverkäuferin ihr Kopftuch aufbehalten darf. Oder barhäuptig verkaufen muss. Denn klar ist: Der Arbeitgeber hat Weisungsrecht für die Kleidung am Arbeitsplatz. Keine Tasse Jacobs Kaffee im Café ohne weißes Schürzchen und kein OP-Saal ohne grüne Kittelträger. Was bin ich froh und dankbar dafür, daß meine Mutter, meine Großmütter, meine Großtanten inzwischen tot sind. Sie würden allesamt heutzutage vor Gericht müssen. Und dort ist man - wie auf hoher See - viel zu sehr in und auf Gottes Hand angewiesen. Was selbst den gläubigen Frauen meiner Familie zu wenig, weil zu gefährlich gewesen wäre. Denn ich erinnere alle Frauen von damals mit Kopftuch. Meine Mutter teilte ab 1. Advent in der ungeheizten Volksküche der Nachkriegszeit Suppen aus, die Hände warm über dem Topf, die Nase eiskalt, der Kopf gerettet unterm Kopftuch (ein rotweißgestreiftes). Meine Großmutter steckte mit der Küsterin in jeweils dicken Kopftüchern die Kerzen in die Leuchter des Altars für die Adventsgottesdienste (deren Tücher hatten Karomuster und waren aus traurigen Resten einer einstmals festlichen Tischdecke genäht). Die paar Kerzen und die Körper. wärme der Gläubigen waren die ganze Heizung. Mutter, Großmutter - sie stünden heute mit einem Bein im Kittchen, denn Bußgeld gab es vor 1949 noch weniger als Geld. Vor Heiligabend wurde die Krippe geholt und stundenlang von meinen Tanten gestaltet - eine in Kopftuch mit Troddel dran. Wie an meiner Pudelmütze. Und ich sehe noch das graubraungestreifte Kopftuch um das Gesicht von Fräulein Martha, unserer Haushälterin. Ein Tuch, mit dem sie alltags wie sonntags lebte und wahrscheinlich auch schlief mangels Männer und/oder Ofen in der Kammer. Auch Fräulein Martha machte sich heute strafbar. Kopftücher sind die Rahmen für die Gesichter meiner Kindheit und ich liebe sie. Unvorstellbar, wie viele meiner Frauen (der Kindheit) ich heute im Gefängnis besuchen müsste. Christine lebt heutzutage in Angst um ihre Freiheit im Schuldienst. Denn sie hat auch zwei wunderschöne, ihr Gesicht umrahmende Kopftücher, traut sich aber nicht, sie zu tragen. Oder ist Tragen von Kopftüchern für Nicht-Muslime nicht strafbar und Christine dürfte, wenn sie wollte? Heiligabend werde ich sie darum bitten, eines umzutun. Heimlich. Nur als Erinnerung für mich an Zeiten, als noch alles getragen werden durfte. Ohne Gerichtsurteil.

3. Dezember 2002